Lemmings Zorn Lemmings vierter Fall

Slupetzky, Stefan 1962-

Lemmings Zorn Lemmings vierter Fall Stefan Slupetzky - Orig.-Ausg. - 301 S. 19 cm - Rororo 24889 . - Rororo 24889 .

Quelle: www.rezensionen.at - Joe Rabl

Von Ottakring in die Rossau und retour
Stefan Slupetzkys neuer Krimi "Lemmings Zorn"
Friedrich-Glauser-Preis (Sparte Debüt), Burgdorfer Krimipreis, KrimiWelt- Bestenliste: Stefan Slupetzkys Kriminalromane "Der Fall des Lemming", "Lemmings Himmelfahrt" und "Das Schweigen des Lemming" haben die Herzen der Leser und der Kritik gleichermaßen im Sturm erobert. Das Jahr 2009 fügt dieser Erfolgsgeschichte drei weitere Mosaiksteinchen hinzu: Im April ist mit "Lemmings Zorn" der vierte Fall rund um Leopold Wallisch alias der Lemming erschienen, im September wird der Autor mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet und ab 2. Oktober ist "Der Fall des Lemming" unter der Regie von Nikolaus Leytner mit Fritz Karl als Lemming im Kino zu sehen.
Ziemlich viel Bahöl um den Lemming, wie man in Wien sagen würde, und um diesen, den Lärm in seinen vielfältigen Erscheinungsformen, geht es unter anderem in "Lemmings Zorn". Dabei fängt alles so idyllisch an, der Lemming und die Klara sind nämlich schwanger und die Ankunft des kleinen Ben, der stilgerecht am 1. Mai unter nicht ganz reibungslosen Umständen zur Welt kommt, taucht den Beginn des Romans in eine friedliche Stimmung.
Schön, wenn auch einmal ein Kriminalroman das Hohelied dieses Wunders singt, das jede Geburt aufs Neue darstellt. Aber "Lemmings Zorn" wäre kein Kriminalroman, würde die Ruhe nicht alsbald gestört und müsste sich der Lemming nicht wieder profaneren Dingen zuwenden. Wie eine bestehende Ordnung gestört und diese Ordnung, mit welchen Mitteln auch immer, verteidigt und wiederhergestellt wird, ist eines der genretypischen Muster; und wenn es einen Kriminalroman gibt, der diesen Prozess sozusagen in Reinkultur abbildet, so ist das "Lemmings Zorn" - und hier wie generell gilt: je harmonischer die Ausgangssituation, umso brutaler der Einbruch der kriminellen Energie, und je nachhaltiger die Störung der Ordnung, umso verzweifelter die Anstrengungen zur Wiederherstellung derselben. Und wenn der Staat und seine Organe ihrer Aufgabe nicht oder vermeintlich nicht nachkommen, gibt es ja auch noch die Möglichkeit, sich selbst zu seinem Recht zu verhelfen.
"Da kann man nix machen", heißt es an einer Stelle, und so wird der alltägliche und alle Lebensbereiche durchdringende Lärm quasi als höhere Gewalt behauptet, womit man eben zu leben habe. Aber vielleicht kann man ja doch etwas machen. Der Lemming jedenfalls ist auf der Suche nach dem Mörder einer jungen Frau - auch wenn die Polizei meint, es wäre ein glatter Selbstmord gewesen -, und lernt dabei ein paar Menschen kennen, die sich zu wehren begonnen haben. Und auch für den Lemming gibt es Anlass genug, sich zu wehren, was nicht ohne cholerische Anfälle vor sich geht, verfügt er doch über das bekannt sonnige Gemüt eines echten Wieners.
Stefan Slupetzky erzählt von ganz normalen Menschen und wie diese miteinander umgehen. Ein wenig schräger mögen sie schon sein als die Zeitgenossen, die uns täglich auf der Straße begegnen, und ein gutes Stück außerhalb von Wien sind der Lemming und seine Mit- und Gegenspieler auch schwer vorstellbar. Doch das gerade ist eine der Stärken des Romans, denn was sich in Lemmings viertem Fall zwischen Ottakring und der Rossau an Bröseln ergibt, um sich in den Tagen zwischen Heiligabend und Silvester in dramatisch perfekter Steigerung zu einem furiosen Finale aufzubauen, das funktioniert in der Form eben nur hier, in einem klar ausgeleuchteten soziologischen Feld, in das der "Fall" stimmig eingebettet ist. Eigentlich wäre das ja eine der Grundvoraussetzungen jeglicher Kriminalliteratur, und doch ist die Klage darüber, wie schlecht es darum manchmal bestellt ist, vielleicht schon so alt wie das Genre selbst. "Lemmings Zorn" hingegen ist - wie die anderen Lemming-Romane auch - ein schönes Beispiel dafür, mit welchem Vergnügen man einem Autor auch noch durch die schrägsten Handlungswendungen folgt, wenn nur das Setting passt, auf dem er diese Pirouetten dreht. Ein Autor, der schon mal einen strangulierten Pinguin von der Decke baumeln ließ, hat in dieser Hinsicht möglicherweise auch gewisse Erwartungen zu erfüllen. Und dass die bekannt schrägen Einfälle und originellen Plots der Slupetzky-Krimis alles andere als Frust erzeugen, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass darüber hinaus noch einiges mehr zu erfahren, wenn nicht gar zu lernen ist. Der Lemming immerhin lernt etwas - Oh doch, der Lemming versteht. Und wie er versteht. Frank Lehners Erzählung hat ihn im Innersten erschüttert, hat seine Sinnesart, sein ohnehin schon angekratztes Ethos vollends auf den Kopf gestellt. Ja, er begreift jetzt, dass Mordlust nicht immer aus loderndem Jähzorn entspringen muss… Er kann ihn nachvollziehen, diesen wohlüberlegten, beharrlichen Wunsch, einen Menschen zu töten, diesen endlos tiefen, kalten Hass… - und mit ihm der Leser und die Leserin: dass es nämlich mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als man sich gemeinhin für sein eigenes Leben vorzustellen vermag, und dass es nicht gar so viel braucht, bis aus einem sogenannten ganz normalen Menschen ein Fall fürs Kriminal wird. Wie ja auch der Lemming ziemlich schnell zumindest mit einem Bein auf die andere Seite gerät. Auch der vierte Fall des Lemming gewährt also wieder tiefe Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele im Allgemeinen - in ihrer Wiener oder geringstenfalls österreichischen Ausprägung im Besonderen. Der Autor verknüpft, was er darin sieht, stringent mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten oder, schärfer formuliert, mit den Zurichtungen der Menschen durch die Wirtschaft, die Medien und die Politik, die, wenn sie schon nicht ein direktes Interesse an diesen Abgründen haben, wenigstens ihren Profit aus den Zuständen ziehen.
Stefan Slupetzky "verpackt" seine Einsichten in eine spannende, ja süffige, über die ganze Strecke witzige und ironische Geschichte, und er macht das in einer für einen Kriminalroman fast schon ungewöhnlich poetischen Tonlage, was die eine oder andere Auszeichnung und die eine oder andere Bestsellerplatzierung, die da garantiert noch folgen werden, allemal rechtfertigt.

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