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Quelle: www.rezensionen.at - Alexander Kluy<br/><br/>Gegenwart war jetzt<br/>Über Thomas Stangls Roman "Was kommt"<br/><br/>Es soll sein, als würde sie zum ersten Mal durch diese Straßen gehen, diese Fassaden sich ins Licht der Vormittagssonne schmiegen, die Fenster ein unbestimmtes Gegenüber spiegeln, den Himmel sich öffnen sehen, nicht nur das, sie wäre auch die erste, die durch diese Straßen geht, der erste Mensch; da sind nur diese Häuser aus einer unendlich entfernten Vorgeschichte und sie selbst: alles andere um sie herum, die Passanten, jede bestimmbare Vergangenheit oder Zukunft, auch sie selbst in jeder bestimmbaren Vergangenheit oder Zukunft (die sie zufällig auch hierher getrieben hat oder hierher treiben wird) ist vernichtet oder zerfließt in diesem Anfang, von der Kulisse verschluckt und in ihr aufgehoben, flimmernd klar, in sich und in sie verschlossen."<br/>Schreibt Thomas Stangl an einem Buch? Schreibt er Ein Großes Buch? Denn dieser lange, lang ausschwingende Satz, in dem Vergangenheit und Zukunft zerfließen, aktives Handeln von passivem Getriebenwerden nicht mehr zu scheiden sind, das gespiegelte Spiegel-Ich unbestimmt bleibt, trotz beharrlicher, beharrlich distanzierter Selbstbeobachtung fast verschluckt wird, in dem Sicht- und Lebensverhältnisse opak werden und sich eintrüben, entstammt nicht seinem jüngsten Prosaband "Was kommt", obschon er sich von der Tonlage und seinem transluzenten Flair perfekt und bruchlos einfügen würde. Sondern dem Vorgänger, Stangls 2006 erschienenem Zweitling "Ihre Musik".<br/>Dessen Protagonistinnen Dora und Emilia tauchen auch in "Was kommt" auf, zumindest dem Namen nach. Sie sind auch diesmal "im heißkalten Bernstein der Beobachtungen", wie die Kritik die Basisatmosphäre von "Ihre Musik" treffend bezeichnete, gehalten, gefangen, eingefroren. Sie, denen andere biographische Partikel zugeordnet sind, bewegen sich in einem verschwimmenden, nebulösen Vergangenheitsgegenwartsland, das keine Grenzen noch Abgrenzungen kennt. In dem, was war, wird; in dem, was kommt, war. Wo Gegenwart Fantasie ist, und Vorstellung, entgegen des Titelpostulats, keinen Ausblick auf Kommendes bietet: "aber das Präsens schneidet das wirkliche Bild aus dem Unmöglichen, so wie es die Wohnung immer wieder aus der Stadt ausschneidet und in sich zurücksaugt…"<br/>Die "Musik"-Personenkonstellation variiert Stangl in seinem neuen Buch. Dora ist ein nichtexistenter Schatten. Sie, Emilias Tochter, ist tot, hinterlassen hat sie einen Sohn namens Andreas. Dieser lebt Ende der 1970er Jahre mit seiner Großmutter Emilia zusammen. So wie Emilia einst im Jahr 1937 wiederum mit ihrer Großmutter zusammenwohnte. Beider Leben ist traumatisiert durchs Außen: das vom schüchternen introvertierten Andreas, der an der Schwelle zur Pubertät steht und seinen weichen, übergewichtigen, unsportlichen Körper verabscheut, durch permanente Hänseleien und aggressive Übergriffe von Mitschülern, und durch auf diese Weise teils ins Monströse verstärkte Unterlegenheits-, Minderwertigkeits- und Selbsthassgefühle; jenes seiner Großmutter durch körperlichen Verfall, vor allem aber durch die Anwesenheit eines Abwesenden, Georg, marxistisch gesinnter Buchhändlerssohn und jüdischer Wiener, der 1938 spurlos verschwand, ihre erste große, einzige Liebe.<br/>Dies reflektiert auch Stangls Stil. Kaum einen anderen Schriftsteller seiner Generation dürfte man derzeit im deutschsprachigen Raum finden, der einen dazu zwingt, derart unnachgiebig seinen Sätzen, hrem Rhythmus, ihrer sich allem Schnellen und Glattpolierten verweigernden Melodie, ihren hohe Konzentration fordernden, manchmal mehrfachen Verschachtelungen und Brüchen, ihren Repetitionen und ihrem Bezügereichtum nicht zu folgen, mehr: sich ihnen anzugleichen, ja im Akt des Lesens fast zu unterwerfen. Will man denn nicht auf den Lohn, sprachliche Schönheit, verzichten.<br/>Hier ist nichts einem planen Realismus verpflichtet. Stangl, der in Wien Philosophie und Hispanistik studierte, lässt das Durchpausen naturalistischer Alltagswirklichkeit links liegen. Es liegt weit außerhalb des Interessen- und Erkenntnisfeldes, das er aufspannt und vermisst.<br/>Zugleich liefert er eindringliche Beschreibungen des eigenen Schreib-, Darstellungs-, Widerspiegelungsmodus. Wie beispielsweise die folgende, auch poetologisch pro domo zu lesende Passage: "Menschenleere, leicht körnige Fotos, die aus einem anderen Universum zu stammen scheinen: als etwas vage Körperliches, eine in ihrem Innern ständig den Ort wechselnde kleine Pein und nicht als klarer Gedanke, nagt dann die Idee an ihr, sie würde gleichzeitig noch und für immer in diesem anderen Universum leben, eine schwarzweiße Figur, im leichten Nebel zwischen den Dingen gefangen."<br/>Dieser Roman ist eine waghalsige - und hoch geglückte - Studie in erzählerischer Dichte. Bis zu welchem Mischungsverhältnis lassen sich die vielzahligen Stränge, Perspektiven, Erlebnisse, Empfindungen, Verzerrungen, Neurosen, Traumen und Träume vermischen, auf dass ein durch äußersten Willen komprimierter Sprachkörper fürs Publikum greifbar und konkret wird? In welcher Ratio stehen Lebende und Tote, Beschworene und Verhasste zu- und nebeneinander? Was sind Vergangenheit und Gegenwart: harte Kontrafakturen oder verwischtes gelebtes Leben in der Zeit? Tatsächlich, wie Thomas Stangl schreibt: "Geschichte heißt, das kommt erst"? Und: Bis zu welcher Statuarik lässt sich Handlung einfrieren und in Introspektion umprägen, ohne dass diese wie jene in ein graues Loch der Langeweile fallen? Ist die Rettung evozierter, bedrängender, akuter Erinnerungen, um so einen halben Schritt aus dem Textraum in den Raum des Schriftstellers Stangl zu machen, möglich durch ihr Aufbewahren im Wort, im Erzählen des Erzählers? Das sind die großen Fragen, die Stangl aufwirft. Fragen, die hier ins Katastrophische laufen, dort auf Grund körperlicher und geistiger Minderleistung sanft in Verzweiflung und Liebes- und Lebensglückverfehlung absacken, entgleiten, sich eingraben, Narben geisterhafter Erinnerung und Sehnsucht werden. "Es geht nur darum: diesen Moment zu wiederholen, in dem sie gelebt haben, in dem sie gelebt hat, den Moment, der ein Leben rechtfertigt (so ist auch alles zu retten, was sie noch denken, schreiben wird, es fängt erst an: hat einen Fixpunkt, an den es sich richtet, jemanden, für den sie denkt: von dessen Denken sie ausgeht, mit dem sie redet, weiterredet, dem sie erzählen wird, was geschieht, egal wo sie ist und egal wo er ist) …" |