Magma Roman Michael Stavarič
Material type: TextLanguage: German, English Publisher: St. Pölten Salzburg Residenz-Verl. 2008Description: 243 S. 21 cmContent type:- Text
- ohne Hilfsmittel zu benutzen
- Band
- 9783701715060
- 830 B 22sdnb
Item type | Current library | Collection | Call number | Status | Date due | Barcode | |
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Bücher | Schulbibliothek BSZ Mistelbach ZSB | Belletristik | DR STA (Browse shelf(Opens below)) | Available | 117756 |
Text teilw. dt., teilw. engl.
Quelle: www.rezensionen.at - Leo Federmair
Magma aus dem Internet
Eine Unsitte oder Leidenschaft, je nach dem, von Buchbesprechern ist es, das
Besprochene mit anderen Werken zu vergleichen. Manch einer schlägt da gern über die Stränge, aber ich habe mich bei der Lektüre von "Magma", dem Roman eines Autors, der erklärtermaßen keine Romane schreibt, vor allem an zwei Künstler erinnert: Günter Schifter und Mick Jagger. "Please allow me to introduce myself, I'm a man of wealth and taste", so beginnt "Sympathy for the Devil": so könnte auch Michael Stavaric anheben. Guter Geschmack, reichhaltige Information, und schon ziehen die Bösewichter der Menschheit und der Natur an uns vorbei. Den Zaren gekillt, im Blitzkrieg mit dem Panzer gefeuert, Kennedy ermordet - ach ja, das alles hat Jaggers Teufel vollbracht. Auch Stavaric läßt eine Reihe von Verbrechen an uns vorbeiziehen, aber noch mehr haben es ihm Naturkatastrophen und Schiffsunglücke angetan.
Was aber Günter Schifter betrifft, den unlängst verstorbenen "Meilenstein" der DJ-Kultur (Auskunft Internet) - nun ja, seine sonorige Radio-Stimme wird in meinem Gedächtnis angeklickt, sobald ich "Magma"-Passagen wie diese lese: "1898 entdeckte Marie Curie das Radium und Polonium, Ferdinand Braun führte den geschlossenen Schwingkreis ein und erhöhte die Sendeleistung [von was?], William Ramsay stieß auf Xenon, Morris William Travers auf Krypton, Superman existierte noch gar nicht, aber dem Kryptonit wurde damals der Weg geebnet. Jonathan Zenneck übte sich in drahtloser Telegraphie, er begründete bald schon den Seefunk, Alberto Santos-Dumont bestückte das erste Luftschiff mit Benzinmotoren und alle waren der einhelligen Meinung, Benzin würde sich nie durchsetzen. Bert Brecht kam zur Welt…" Jahresüberblicke dieser Art hat Schifter um 1970 in seine Shellack-Sendungen eingestreut, in ähnlich launigem Ton, wie ihn Stavaric in diesem Buch pflegt, wobei letzterer gern auch Jahrhundertüberblicke gibt und gelegentlich ein paar Dinge und Zahlen realitätswidrig vermischt oder vertauscht, das trägt bei zur guten Laune. Superman, nun ja, ist so hineingerutscht, und bei Xenon hat der Autor die Bezeichnung "Edelgas" weggelassen, damit der Leser nicht weiß, was gemeint ist, und das Sätzchen schön seltsam findet. Die meisten von Stavaric in diesem Texthäppchen angeführten Informationen stammen aus dem Wikipedia-Stichwortartikel "1898".
An Jaggers Teufel muß ich nicht zuletzt deshalb denken, weil Stavaric selbst seinen Erzähler als eine Art Mephisto vorgestellt und eine begeisterte Besprecherin das gleich nachgebetet hat. Ein Teufelchen wenigstens, wenn schon kein Teufel. In Wahrheit aber nicht einmal das, auch kein Gott und kein "Engel der Geschichte", mit oder ohne Walter Benjamin und/oder Paul Klee, sondern ein Sprachröhrchen des Autors, das als Figur, wie Stavaric beteuert, vage bleiben mußte (mußte?), damit die Katastrophen ungestört daherpurzeln können. Aber ein paar Konturen hat er ja, der gute Mann, und die zeigen ihn eher als tierliebenden Ökofuzzi, ein bißchen zynisch halt ab und zu, wie das einem mitteleuropäischem Durchschnittsintellektuellen von heute zusteht, aber im Grunde doch ein bißchen besorgt um das Los der Menschheit. Aber Geschichtsbewußtsein? Nein Danke! Sondern History-Show im Schifterschen Sinne: faktenskeptische Geschichtsglitterung von leicht verfügbaren Fakten, um ein angenehmes Gefühl vom Sog der Zeiten zu vermitteln. Mit cooler Hand ausgestreut vom Ökofuzzi, der ungern auf seine Lieblingssprachgeste verzichtet: "Ich meine…" Ein Beispiel aus einem der sanft-zynischen Häppchen: "Vielleicht ist es eine Charakterschwäche, Hoffnung zu säen, wo es keine gibt. Ich meine, soll noch einer sagen, ein Menschenleben hätte mir nie etwas bedeutet."
Stavaric im Interview auf die ehrfürchtige Frage nach seiner Arbeitsweise: "Es sind sehr viele Lexika zum Einsatz gekommen. Gegoogelt habe ich wenig." Gelogen, aber die Lüge gehört zur Show; Stavaric hat in einem fort gegoogelt. Was Lexika angeht, da hat er der Einfachheit halber Wikipedia "zur Hand genommen", auf andere Informationsquellen ist er beim Wandern durch den Kraut- und Rübengarten des Internets gestoßen. Seriöse Quellen und weniger seriöse, um eine Unterscheidung aus der pränatalen Zeit zu bemühen. Bald mehr oder weniger wörtlich übernommen, oft aber auch leicht umgeschrieben, verbrämt, diesen Eindruck ergeben Vergleiche zwischen Netz und Buch. Es gehört zu den schönen Möglichkeiten der Literatur, daß sie aus allen möglichen Materialien etwas machen kann. Viele große Texte der Literaturgeschichte sind aus diversen, zuweilen dubiosen Fundstücken zusammengeschneidert - warum nicht aus solchen, die das Internet bietet? Das Wie allein entscheidet über den Wert des Produkts. Wenn die googelnde Verschneiderung aber auf dem Niveau des Verschneiderten bleibt, fügt sich das Produkt wohl in die noch neue Kiste der Internetliteratur. Wer jedoch an seiner Liebe zur Literatur-Literatur festhält und diesen mitunter denunziatorisch eingesetzten Begriff sowie seine Sache verteidigen will, der sollte sich trotz allem fragen, ob Autoren wie Stavaric es sich nicht zu leicht, zu flott, zu eilig machen. Das Collage-Prinzip von "Magma" ist nicht das der literarischen Avantgarden, sondern das von "copy + paste". Der Text hat und erzeugt keinen Sinn für die Tiefe von Geschichte, er bleibt an der Oberfläche, indem er sämtliche Katastrophen und die spärlichen Lichtblicke gleichermaßen durch die Sauce zieht. Von den anzitierten Fakten wird bei keinem Leser irgend etwas hängen bleiben, man kann sie getrost mit dem Zuklappen des Buchs vergessen. Paradoxes Spiel mit dem historischen Gedächtnis, wo das Vergessen den Fluchtpunkt bildet. Oder, um es im O-Ton des Autors zu sagen: "Die Schicksale kommen und gehen…"
Besonders enttäuscht haben den Literatur-Literaturmenschen in mir die Häppchen über Walfang im 19. Jahrhundert, Herman Melville und "Moby-Dick". Stavaric hat sich offenbar nicht die Zeit genommen, um sich mit dem Melvillschen Meisterwerk auseinanderzusetzen, das ihm hätte zeigen können, wie ein Autor seinen Stoff durchdringt und die Erzählung mäandern läßt, so daß die Charaktere Plastizität gewinnen. Auch scheint er darauf verzichtet zu haben, das 2004 auf deutsch erschienene Melville-Buch "Ein Leben", mit Briefen und Tagebüchern des Autors, zu lesen. Statt dessen hat er sich auf der Internetseite eines Philatelisten kundig gemacht, die den Namen "Seemotive: Maritime Motivphilatelie!" trägt. Dort sieht man viele Abbildungen von bunten Briefmarken mit Schiffen und Meerstücken, garniert mit ein paar historischen Informationen. "Erst 1859 wurde er" - die Rede ist von einem "historischen" Wal - "von einem schwedischen Walfänger erlegt, in seinem zweiundzwanzig Meter langen Körper steckten gut zwei Dutzend Harpunen, ein Andenken an die vielen Kämpfe, bis er dann doch einmal den Kürzeren zog." Der erste der hier zitierten Sätze ist wortwörtlich aus dem Internet übernommen; die "zwei Dutzend" Harpunen sind aufgerundet, jener Philatelist spricht von "19 Waffen", die in der Haut des Tieres "steckten" (das Verb ist dasselbe). Den letzten Satz hat Stavaric selbst erfunden und hinzugefügt, er verleiht der Erwähnung von Zerstörung und Tod jenen bemüht coolen Ton, der für die Haltung des Ökofuzzis charakteristisch ist und sich mit einer Prise moralischer Bedenksamkeit gut verträgt. Im folgenden Häppchen macht er sich dann Gedanken, wieso zeitgenössische Kritiker Melville Verhöhung der christlichen Religion vorwarfen, und fragt sich mit spielerisch zusammengezogenen Brauen: "Ich meine, ob die Menschen nicht ganz andere Sorgen hatten?"
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