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˜Dieœ schrecklichen Kinder der Neuzeit über das anti-genealogische Experiment der Moderne Peter Sloterdijk

By: Material type: TextTextPublisher number: Best.-Nr.: 42435Language: German Publisher: Berlin Suhrkamp 2014Edition: 1. AuflDescription: 489 S. 21 cmContent type:
  • Text
Media type:
  • ohne Hilfsmittel zu benutzen
Carrier type:
  • Band
ISBN:
  • 9783518424353
  • 3518424351
Subject(s): Additional physical formats: Online-Ausg.: ˜Dieœ schrecklichen Kinder der NeuzeitDDC classification:
  • 306.01 22/ger
Online resources: Review: Quelle: www.rezensionen.at - „Après nous la delugue“ soll Madame Pompadour, die Geliebte Ludwig des XV. und eine der einflussreichsten Personen am Hof, 1757 aus Anlass einer Niederlage der französischen Truppen im Kampf gegen Preußen formuliert haben. Dieses in die Geschichte eingegangene Bonmot sei bezeichnend für die knapp mehr als 200 Jahre währende Epoche, die wir in der Nachfolge der Französischen Revolution als die Moderne bezeichnen, meint Peter Sloterdijk. Seit dieser epochalen Erschütterung – Sloterdijk spricht von Hiatus – stelle sich die Frage: „Was tun?“ Damit nicht genug: Sich Nietzsches „Tollen Menschen“ zum Zeugen nehmend, postuliert Sloterdijk, dass wir seit Aufkündigung der von Gott gesetzten, monarchisch-genealogischen Ordnung, fortwährend der Zukunft entgegen taumeln. Die „Programmierung der Weltveränderungsmacht“ lasse sich als „Streit zwischen Rationalität und Irrationalität“, als „gewußter und gewollter Fortschritt“ oder als „chronisches Nach-vorne-Stürzen, das sich als Tat, Projekt und planvolles Handeln camoufliert“ (S. 72 f.), interpretieren. Konsequenz dieser Sturzbewegung sei ein „beunruhigender Überschuß an Wirklichkeit“, der auf die „Labilisierung der Filiation“ zurückzuführen sei und sich in einem zivilisationsdynamischen Hauptsatz wie folgt zusammenfassen lasse: „Im Weltprozess nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können“ (S. 85). Dies bleibt, wie wir wissen, und wie Sloterdijk nicht müde wird uns mahnend [leider nur selten auch augen-zwinkernd] zu erläutern, nicht folgenlos: Die insgesamt 25, je nach Geschmack des Interpreten tragischen oder erheiternden Sätze – z. B. „Es werden in aller Welt viel mehr Wünsche nach Objekten des Konsums und des Genießen stimuliert, als durch real produzierte Güter bedient werden können“, „Es werden der Problemlösungsfähigkeit künftiger Generationen zunehmend mehr Aufgaben aufgebürdet, als diese durch die Übernahme des Kompetenz-Erbes vorangehender Generationen und dessen Ergänzung durch eigene Erfindungskräfte meistern könnten“, „Es werden in Menschkörpern der wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind“ (vgl. S. 87ff.) – gehören zu den wenigen semantisch schlichten Gefügen dieses insgesamt ausladenden, nicht selten auch mühsamen Textes. Die Rebellion der schrecklichen Kinder Zwar nicht beiläufig, aber doch willkürlich versammelt Sloterdijk in seinem Panoptikum „neuzeitlicher Schreckenskinder“ Kaiser und Könige (Ödipus und Alexander d. Große, Englands Heinrich VIII., Napoleon), Despoten und Tyrannen (Hitler, Stalin), Religionsgründer, Kirchenväter und Revolutionäre (Jesus, Paulus, Augustinus, Lenin), Künstler (Leonardo Da Vinci) und Philosophen (Nietzsche, Stirner), um ihre historische Einzigartigkeit – im Guten wie im Bösen – aus der Verneinung und Verweigerung der Tradition, des (biologischen) Erbes und des Respekts gegenüber dem Vorangegangenen zu postulieren. Das Streben nach Eigenständigkeit und Freiheit – Jesus wird für Sloterdijk als „Bastard Gottes“ zu einem Wegbereiter der Menschenrechte – geraten so unter Generalsverdacht. Während, so der Autor, in traditionellen Kulturen „Wiederholbarkeit und Wahrheit“ als evolutionäre Prinzipien Bestand hatten, wird „die ‚Wirklichkeit‘ der Moderne überwiegend aus der Nachahmung von modellgebenden Zeitgenossen bestimmt“. Es siegt, mit Gabriel Tarde gesprochen, „die Mode über die Sitte“ (vgl. S. 225). Freilich irritiert es, und stößt gerade im Blick auf die NS-Ideologie unangenehm auf, wenn das Prinzip geneaologischer Kontinuität zur conditio sine qua non des zivilisatorischen Fortschritts hochstilisiert wird. Und dennoch sind die Erkundungen des Autors, dem komplexe kirchen-, kunst- und literaturgeschichtliche Zusammenhänge gleichermaßen vertraut sind wie politische, ökonomische und selbstredend philosophische, mit Gewinn zu lesen. Von einer aktuellen Form von Bastardisierung jenseits genealogischer Traditionsverweigerung spricht der Autor zu Ende seiner mäandernden Gedankengänge, wenn er – von den Gründungsvätern der amerikanischen Verfassung ausgehend – die Praxis einer „nihilistischen Geldschöpfung“ kritisiert, durch welche sich „das Recht auf Neubeginn“ nur von einem „epochalen Staatsbankrott“ ableiten lässt (S. 445). In Anbetracht des Postulats „herkunftsschwacher und nachkommensloser Selbstverzehrer“ als den „real und pragmatisch letzten Individuen in der Konsum- und Erwerbs’gesellschaft‘“, verwundert es freilich nicht, dass Peter Sloterdijk einmal mehr als Reaktionär und Stichwortgeber der Rechten attackiert wurde. Allzu leicht sollte man es sich in der Beurteilung mit diesem flirrenden, vielschichtigen und im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft skeptischen Essay allerdings nicht machen. Walter Spielmann
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Bücher Bücher Schulbibliothek BSZ Mistelbach ZSB Sachliteratur PI.T SLO (Browse shelf(Opens below)) Available 10135358

Quelle: www.rezensionen.at -

„Après nous la delugue“ soll Madame Pompadour, die Geliebte Ludwig des XV. und eine der einflussreichsten Personen am Hof, 1757 aus Anlass einer Niederlage der französischen Truppen im Kampf gegen Preußen formuliert haben. Dieses in die Geschichte eingegangene Bonmot sei bezeichnend für die knapp mehr als 200 Jahre währende Epoche, die wir in der Nachfolge der Französischen Revolution als die Moderne bezeichnen, meint Peter Sloterdijk. Seit dieser epochalen Erschütterung – Sloterdijk spricht von Hiatus – stelle sich die Frage: „Was tun?“ Damit nicht genug: Sich Nietzsches „Tollen Menschen“ zum Zeugen nehmend, postuliert Sloterdijk, dass wir seit Aufkündigung der von Gott gesetzten, monarchisch-genealogischen Ordnung, fortwährend der Zukunft entgegen taumeln. Die „Programmierung der Weltveränderungsmacht“ lasse sich als „Streit zwischen Rationalität und Irrationalität“, als „gewußter und gewollter Fortschritt“ oder als „chronisches Nach-vorne-Stürzen, das sich als Tat, Projekt und planvolles Handeln camoufliert“ (S. 72 f.), interpretieren.
Konsequenz dieser Sturzbewegung sei ein „beunruhigender Überschuß an Wirklichkeit“, der auf die „Labilisierung der Filiation“ zurückzuführen sei und sich in einem zivilisationsdynamischen Hauptsatz wie folgt zusammenfassen lasse: „Im Weltprozess nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können“ (S. 85). Dies bleibt, wie wir wissen, und wie Sloterdijk nicht müde wird uns mahnend [leider nur selten auch augen-zwinkernd] zu erläutern, nicht folgenlos: Die insgesamt 25, je nach Geschmack des Interpreten tragischen oder erheiternden Sätze – z. B. „Es werden in aller Welt viel mehr Wünsche nach Objekten des Konsums und des Genießen stimuliert, als durch real produzierte Güter bedient werden können“, „Es werden der Problemlösungsfähigkeit künftiger Generationen zunehmend mehr Aufgaben aufgebürdet, als diese durch die Übernahme des Kompetenz-Erbes vorangehender Generationen und dessen Ergänzung durch eigene Erfindungskräfte meistern könnten“, „Es werden in Menschkörpern der wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind“ (vgl. S. 87ff.) – gehören zu den wenigen semantisch schlichten Gefügen dieses insgesamt ausladenden, nicht selten auch mühsamen Textes.
Die Rebellion der schrecklichen Kinder
Zwar nicht beiläufig, aber doch willkürlich versammelt Sloterdijk in seinem Panoptikum „neuzeitlicher Schreckenskinder“ Kaiser und Könige (Ödipus und Alexander d. Große, Englands Heinrich VIII., Napoleon), Despoten und Tyrannen (Hitler, Stalin), Religionsgründer, Kirchenväter und Revolutionäre (Jesus, Paulus, Augustinus, Lenin), Künstler (Leonardo Da Vinci) und Philosophen (Nietzsche, Stirner), um ihre historische Einzigartigkeit – im Guten wie im Bösen – aus der Verneinung und Verweigerung der Tradition, des (biologischen) Erbes und des Respekts gegenüber dem Vorangegangenen zu postulieren. Das Streben nach Eigenständigkeit und Freiheit – Jesus wird für Sloterdijk als „Bastard Gottes“ zu einem Wegbereiter der Menschenrechte – geraten so unter Generalsverdacht.
Während, so der Autor, in traditionellen Kulturen „Wiederholbarkeit und Wahrheit“ als evolutionäre Prinzipien Bestand hatten, wird „die ‚Wirklichkeit‘ der Moderne überwiegend aus der Nachahmung von modellgebenden Zeitgenossen bestimmt“. Es siegt, mit Gabriel Tarde gesprochen, „die Mode über die Sitte“ (vgl. S. 225).
Freilich irritiert es, und stößt gerade im Blick auf die NS-Ideologie unangenehm auf, wenn das Prinzip geneaologischer Kontinuität zur conditio sine qua non des zivilisatorischen Fortschritts hochstilisiert wird. Und dennoch sind die Erkundungen des Autors, dem komplexe kirchen-, kunst- und literaturgeschichtliche Zusammenhänge gleichermaßen vertraut sind wie politische, ökonomische und selbstredend philosophische, mit Gewinn zu lesen.
Von einer aktuellen Form von Bastardisierung jenseits genealogischer Traditionsverweigerung spricht der Autor zu Ende seiner mäandernden Gedankengänge, wenn er – von den Gründungsvätern der amerikanischen Verfassung ausgehend – die Praxis einer „nihilistischen Geldschöpfung“ kritisiert, durch welche sich „das Recht auf Neubeginn“ nur von einem „epochalen Staatsbankrott“ ableiten lässt (S. 445).
In Anbetracht des Postulats „herkunftsschwacher und nachkommensloser Selbstverzehrer“ als den „real und pragmatisch letzten Individuen in der Konsum- und Erwerbs’gesellschaft‘“, verwundert es freilich nicht, dass Peter Sloterdijk einmal mehr als Reaktionär und Stichwortgeber der Rechten attackiert wurde. Allzu leicht sollte man es sich in der Beurteilung mit diesem flirrenden, vielschichtigen und im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft skeptischen Essay allerdings nicht machen. Walter Spielmann

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