Auf offenem Meer Erzählungen Bettina Balàka
Material type: TextLanguage: German Publisher: Innsbruck Wien Haymon-Verl. 2010Description: 134 S. 22 cmContent type:- Text
- ohne Hilfsmittel zu benutzen
- Band
- 9783852186252
- Erzählungen
- Arisierung
- Zeitgeschichte
- (VLB-FS)Balàka
- (VLB-FS)Auf hoher See
- (VLB-PF)BA: Buch
- (VLB-WN)1113: Hardcover, Softcover / Belletristik/Historische Romane, Erzählungen
- (BISAC Subject Heading)FIC019000
- (BISAC Subject Heading)FIC029000
- Irakkrieg
- Nazionalsozialismus
- Schifffahrt
- Arisierung
- Geschichten
- Belletristische Darstellung
- Antisemitismus
- Rassenhass
- Rassismus
- Xenophobie
- 830 B 22sdnb
Item type | Current library | Collection | Call number | Status | Date due | Barcode | |
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Bücher | Schulbibliothek BSZ Mistelbach ZSB | Belletristik | DR BAL (Browse shelf(Opens below)) | Available | 10075708 |
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Quelle: www.rezensionen.at - Julia Kospach
Man hat die Wahl
Das Allerwichtigste zuerst: Mit »Titanic« hat Bettina Balàka eine Meistererzählung geschrieben, perfekt und tief beeindruckend. Es ist die Art von Geschichte, die einem über lange Zeit immer wieder durch den Kopf geht, an deren Figuren, Szenen und Stimmungen man immer wieder denkt. »Titanic« ist die erste und – mit Abstand – längste Erzählung in Bettina Balàkas neuem Erzählband »Auf offenem Meer«. Sie hebt sich ab und heraus. Ich habe sie drei Mal gelesen, um herauszufinden, wie sie gemacht ist, und um noch einmal über sie zu staunen: über ihre wirkungsvolle Schlichtheit vor allem, ihr für eine österreichische Erzählung äußerst ungewöhnliches Thema und ihr spezifisches zeithistorisches Setting bei gleichzeitiger überzeitlicher Modellhaftigkeit.
»Titanic« ist der Spitzname des stalinistischen Gefängnisses zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs, das der Ort der Handlung dieses Kammerspiels zwischen zwei Männern ist. Das hierarchische Gefälle zwischen ihnen könnte nicht größer sein. Stellvertretender Gefängnisdirektor der eine, Gefangener der andere. Bettina Balàka erzählt diese Geschichte aus der Perspektive der Macht. Das Ich, das in ihr spricht, weiß sich auf der richtigen Seite der herrschenden Verhältnisse und befindet sich im bewussten Vollbesitz seines eigenen kleinen Einflussbereichs aus Menschenverwahrung, Bestrafung und Unterwerfung: »Er, der Sohn eines leitenden Angestellten einer Textilfabrik, kniete vor mir, dem Sohn eines armen Tagelöhners (ich ließ die Gefangenen gerne niederknien, da ich so sitzen bleiben konnte, sie aber dennoch zu mir aufsehen mussten – eine rein praktische Überlegung).« Der Knieende ist Nikolai Iwanowitsch Wawilow. Er hat bereits elf Monate an Verhören in der Moskauer Lubjanka hinter sich, ein Intellektueller und berühmter Mann, Botaniker, Genetiker, Geograph, Agronom und Forschungsreisender, Träger vieler in- und ausländischer Würden, tief gefallen, im Vokabular des Stalinismus nun nur mehr »ein Feind der Sowjetunion«, angeklagt des Hochverrats, der Sabotage und Zerrüttung der sowjetischen Landwirtschaft sowie konterrevolutionärer Tätigkeiten.
Und doch: Der Gefängnisdirektor fühlt sich seltsam angezogen von diesem »Volksfeind«. Erst sind es seine Augen,die ihm auffallen: »Sie mussten einmal sehr lebhaft gewesen sein, denn lebhaft war auch der Kummer darin«, dann sein Wesen: »Noch im Niederknien brachte er ein verbindliches Lächeln zustande, das auf eine Höflichkeit weit jenseits der Gefängnismauern verwies und mit dem verkrampften Grinsen der Kriecher nichts gemein hatte.« Das sind erschütternde Sätze. Sätze, wie man sie höchstens kennt aus den ungeheuerlichen, herzzerreißenden Täter-Opfer-Allegorien des großen serbischen Schriftstellers Aleksandar Tisma. Denn aus ihnen spricht die Diktatur, die sich ihre Opfer zurichtet, sie schindet und zermürbt, um dann mit kühlem, forschendem Blick zu registrieren, welche Spuren die Quälereien hinterlassen haben. Die Macht ist es auch, die es sich herausnimmt, ihre Opfer zu verachten, wenn sie die Angst an ihnen wittert, oder sich für sie zu interessieren, wenn ihr gerade danach ist. Sie zeichnet sie durch ihr Interesse aus, bestraft sie aber umgekehrt gleich wieder dafür, überhaupt Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben.
Der Gefängnisdirektor geht mit Wawilow um, wie er es vielleicht mit einem Hund täte, welcher erstaunlich viel Charakter zeigt. Er verfügt über ihn und diszipliniert ihn, er weist ihm seinen Platz zu und zweifelt nicht einen Augenblick an der Angemessenheit der Verhältnisse. Gleichzeitig widmet er ihm Zeit, spielt mit ihm, probiert Strategien an ihm aus und ent-wickelt darüber eine fast bewundernde Zuneigung, die freilich bis zum Schluss geprägt ist von der ideologischen Frontlinie zwischen Freund und Feind. Wawilows Schicksal lässt ihn nicht hadern, zu keinem Zeitpunkt stellt es für ihn die herrschenden Bedingungen in Frage. Vielleicht ist da ein leises Bedauern über einen auf Abwege Geratenen, der aber doch im Ende vor allem seiner gerechten Strafe zugeführt wird.
Unvergleichlich ist Bettina Balàkas Gespür für die Psyche eines zu mittleren Ehren gekommenen, mit beachtlicher Schlauheit ausgestatteten Apparatschiks. Er geht nach Hause zu seiner geliebten Frau Mila mit dem »weichen Herz«, die anders als er keinen Sinn für »geistige, logistische, komplexe Verbrechen« hat und jeden bedauert, der »nicht unmittelbar ein Messer in das Herz eines Mitgliedes der Arbeiter- und Bauernklasse gerammt« hat. Auch mit Wawilow hat Mila Mitleid. Sie wird gleichsam aus der Entfernung die Dritte in diesem Reigen, verleiht ihm eine weitere Dimension, die ihn noch aufregender macht. Bettina Balàka entwickelt aus ihrer Dreierkonstellation eine halluzinatorisch kühne, fesselnde Geschichte, in der ein Scherge sich fast schon wider Willen beeindrucken lässt von einem Ohnmächtigen, in der wie nebenbei die ausgeklügelten Regeln der psychologischen Zerrüttung von Menschen bloßgelegt werden und zugleich ein Denkmal gesetzt wird für den innersten Kern des Menschen, der nicht zerstört werden kann. Auf seltsame Weise bleibt der Gefangene Wawilow am Leben und in Erinnerung. Wunderbare Volten nimmt diese Geschichte, lässt ihre Helden diskutieren über Genetik auf der einen und die Formung des Menschen durch die Umwelt auf der anderen Seite, hat Raum für schwärmerische Vorträge und hitzige Debatten, berichtet vom Mangel der Kriegsjahre, von Willkür und Großmut. Unterlegt ist sie mit einem leisen ironischen Unterton, der sich, ohne es je zu formulieren, gegen Ideologie und Dummheit richtet. So viel ist da auf knapp 50 Seiten abgehandelt, dass man diese viele Male lesen könnte, ohne sich zu langweilen. Alle großen Themen sind da: Macht und Tod, Krieg und Frieden, Liebe und Hass, Großmut und Niedertracht, Gewalt und die Freiheit des Denkens. »Titantic« ist eine ganz und gar erstaunliche, wunderbare Erzählung.
Ein wenig wirkt es allerdings so, als wäre der Erzählband, dessen Teil »Titanic« ist, vor allem entstanden, um diese eine Geschichte zu veröffentlichen. Als eigenes Buch, als Novelle etwa, wäre sie zu kurz gewesen. Vielleicht ist es aber auch einfach nur so, dass diese Geschichte so ungeheuer beeindruckend ist, dass die anderen im Vergleich dazu gewissermaßen abfallen müssen. In einer davon geht es um einen Konstrukteur von Chronometern zur Zeit von Isaac Newton (»Lignum Vitae«), in »Friendly Fire« um den fiktiven Schauplatz einer globalen Auseinandersetzung um Rohstoffhandelsrouten, auf dem ein U-Boot-Kapitän in einem Golfmeer durch seltsame Verstrickungen just das Verkehrsflugzeug abschießt, in dem seine Frau und Tochter sitzen. »Chain Gang« wiederum gibt Nachricht aus einem Frauengefängnis, dessen Insassinnen sich in »naturweiße Anstanddirndl« werfen, um hohen Besuch zu erhalten und einen Mord zu begehen, während in »Merci« ein Besuch bei einer französischen Arbeitskollegin anders verläuft, als die vorhergehende E-Mail-Korrespondenz vermuten ließ. Das sind seltsame Geschichten, manche in einem aus der Zeit gefallenen Sci-Fi- oder zumindest Fantasy-Setting, manche zu fragmentarisch, um in Schwung zu kommen. Eine noch, die letzte, ist wieder interessant, wiewohl sie so absichtsvoll auf ein bestimmtes moralisches Dilemma abzielt, dass sie allein deswegen schon nicht wirklich tief gehen kann: In »Blaue Augen« erben ein junger Mann und seine schwangere Frau eine prachtvolle Riesenwohnung in bester Wiener Villenlage. Vererbt wird sie ihnen von der todkranken Großmutter des Mannes, die bis zuletzt eine überzeugte Nationalsozialistin ist, auf Shake-Hands mit Hitler im Himmel hofft und die Frau ihre Enkels stets mit Kommentaren zu ihren »unarischen« braunen Augen, rassistischen Bemerkungen und allgemeiner Ignoranz auf die Palme gebracht hat. Die junge Frau umgekehrt stammt aus einer Familie von Tiroler Widerstandskämpfern. Antifaschismus hat sie mit der Muttermilch aufgesogen. Die Frage, die diese Geschichte stellt, lautet nun – wenig überraschend: Was tun? Die komfortable Luxus-Erb-Wohnung annehmen, die noch dazu, wie man weiß, aus arisiertem Besitz stammt oder seinen Prinzipien treubleiben? Balàka und ihre Helden entscheiden sich für das, was man in Abwandlung eines berühmten Zitats die Sinowatz-Lösung nennen könnte: »Mir ist das alles zu komplex.« Was genau? Dass man die Wahl hat und eine treffen muss.
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