Versuch über den stillen Ort
Peter Handke
- 1. Aufl.
- 108 S. 21 cm
Quelle: www.rezensionen.at - Rainer Moritz
Abortkacheln der Geborgenheit Peter Handkes "Versuch über den Stillen Ort" Da liest man die Verlagsankündigung, da liest man, dass sich Peter Handke, nachdem er sich zuvor bereits in drei "Versuchen" mit der Müdigkeit, der Jukebox und dem geglückten Tag befasst hat, nun mit stillen Orten auseinandersetzen möchte, und da scheint es keinen Zweifel zu dulden, worum es in diesem Text gehen dürfte. Natürlich, denkt man, wird es um die stillen Winkel, um die abgeschiedenen Flecken unserer Welt und wahrscheinlich um eine daraus abzuleitende Poetik gehen, die - noch wahrscheinlicher - irgendwann bei Adalbert Stifters "Sanften Gesetz" landen wird. Doch die Erwartung täuscht, zumindest am Anfang: Peter Handke geht es um eine auf den ersten Blick recht prosaische Lokalität, um den - in alter Rechtschreibung gern mit Großbuchstaben geschriebenen - "Stillen Ort", vielerorts possierlich zum "Stillen Örtchen" verniedlicht. Ausgehend von einer Romanpassage bei A. J. Cronin, summiert Peter Handke prägende Erlebnisse, die er auf den Aborten und Toiletten dieser Welt gemacht hat. Er tut dies in seinem bewährten Stil des Sich-Herantastens, der behutsam und mitunter mit übergroßer Bedeutsamkeit befrachtet nach den Anlässen fragt, die dazu führten, sich ausgerechnet mit Abortfliesen und Klomuscheln zu beschäftigen. Um die neuerdings - etwa in Florian Werners kleiner Kulturgeschichte "Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße" - publizistisch gern traktierten menschlichen Exkremente und um den "Gestank" geht es Handke nicht. Er fragt danach, was ihn persönlich veranlasste, immer wieder diese "Asylorte" aufzusuchen und auf diese Weise einem "Geselligkeitsüberdruss" nachzugeben. Fein austarierte erzählerische Miniaturen sind es, die er dabei liefert: vom Abtritt im Kärntner Großvaterhaus, wo gelochte Zeitungen als Klopapier dienten und Wasserspülung ein Fremdwort war, über die Zuflucht im Internat, wo sich "Geborgenheit" unter den dreihundert Mitschülern erst einstellt, als man sich in den entlegensten Toilettentrakt flüchtet, bis hin zu einem Friedhofs-WC im japanischen Nara. Der langsame Beobachter Handke verwandelt sich, sobald er die wohltuende Abgeschiedenheit des "Stillen Orts" erreicht, in einen "Raumvermesser", der dem scheinbar Alltäglichen sinnliche und ästhetische Reize abgewinnt. Da entdeckt er im gekachelten Toilettenviereck ein System geometrischer Formen, "für das ich draußen vor der Tür keine Augen gehabt hatte", und da nimmt er wahr, dass die Stille jenes Ort eine vorgetäuschte ist. Je länger man in sich gekehrt und schweigend auf dem Abort verweilt, desto aufmerksamer wird das Ohr für das permanente "Rauschen" und das "gedämpfte Lärmen", das dem "Stillen Ort" eine magische Geräuschkulisse gibt. Vor allem dem Schüler und Studenten Handke gewähren die Toiletten (und Beichtstühle aparterweise) Zuflucht; später macht er vergleichbare Erfahrungen in Heuschobern und Milchständen. Doch wie immer sind es die am weitesten zurückliegenden Urerlebnisse, die besonderen Stellenwert erlangen, und so bleiben von dem, was Handke im "Versuch über den Stillen Ort" zusammenträgt, vor allem zwei Szenen in intensiver Erinnerung. Zum einen kehren wir zurück in die frühen sechziger Jahre, als der noch nicht einmal 20-Jährige bei einer Wanderung nach Spittal an der Drau kommt (das sich übrigens keineswegs, wie im Text behauptet, heute Spittal am Millstätter See nennt), kurzerhand in einer Bahnhofstoilette übernachtet, dort vergebens versucht, Thomas Manns "Buddenbrooks" zu lesen und, "gekrümmt im Halbkreis um die weiße Abortkachel", Schlaf zu finden. Nicht minder eindringlich geraten, zum anderen, jene Erinnerungsfragmente, die an die Grazer Universität führen, wo der Student Handke sich heimlich in den Toilettenräumen die Haare zu waschen pflegte - bis er von einem ungeliebten Professor überrascht wird, der sich auf ein Rendezvous vorbereitet und so zum Komplizen des Haarewäschers wird. Dieser wiederum erlebt wenig später, dass er mit seinem eigenwilligen Handeln keineswegs allein auf dieser Welt ist: Im "weißen Neonlicht" trifft er plötzlich auf einen "Doppelgänger", der dreisterweise die Universitätsräume ebenfalls nutzt, sich seine Haare zu waschen - eine merkwürdige Duplizität, die den "Stillen Ort" endgültig zweckentfremdet. Ganz am Ende seines "Versuchs" gelangt Peter Handke - wir sind nicht überrascht - zum "mächtigsten Anlass", jenen Text zu verfassen. Was ihn, so stellt er am Ende seiner Betrachtung fest, zu "Stillen Orten" trieb, war stets das "Geschlagensein mit Stummheit", das ihn vor der lautstarken Gesellschaft flüchten ließ. Erst in der WC-Abgeschiedenheit kehrt die Sprache wieder, erst dort findet sie sich wieder ein. Hat man Peter Handke erst einmal zu seinen Kärntner oder japanischen Aborten begleitet, wird man bei der Lektüre anderer Texte unweigerlich Toilettenszenen eine ganz neue Aufmerksamkeit schenken. Plötzlich erkennt man, dass die Weltliteratur - und keineswegs nur Schul-, Internats- oder Büroromane - ohne WC-Refugien kaum denkbar ist, ganz abgesehen von den eigentümlichen Fantasien, die (Flugzeug-)Toiletten als attraktiven Ort für sexuelle Begegnungen erscheinen lassen. Davon freilich erzählt Peter Handke nichts.
9783518423172 Pp. : EUR 17.95 (DE), ca. EUR 18.50 (AT), ca. sfr 25.90 (freier Pr.) 3518423177
9783518423172
Best.-Nr.: 42317
12,A45 dnb
1022506013 DE-101
Essay Klosett Handke, Peter WC Literatur, österreichische Literatur Österreichs