TY - BOOK AU - Kehlmann,Daniel ED - Rowohlt Verlag TI - Tyll: Roman SN - 9783498035679 U1 - 830B 23sdnb PY - 2017/// CY - Reinbek bei Hamburg PB - Rowohlt KW - Dreißigjähriger Krieg KW - Till Eulenspiegel KW - Fleming, Paul KW - (Produktform)Hardback KW - (Produktform (spezifisch))With dust jacket KW - 30 jähriger Krieg KW - Die Vermessung der Welt KW - Paul Fleming KW - Gaukler KW - Tyll KW - (VLB-WN)1112: Hardcover, Softcover / Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945) KW - Fiktionale Darstellung KW - gnd-content KW - Historische Romane und Erzählungen KW - gatbeg KW - Erzählende Literatur: Gegenwartsliteratur ab 1945 N2 - Quelle: www.rezensionen.at - Rainer Moritz Ich bin der Tyll Daniel Kehlmanns Roman »Tyll« Wer einen Weltbestseller schreibt, hat es in der Folge nicht leicht und steht unter besonders genauer Beobachtung. Daniel Kehlmann ist es so ergangen. Seit seinem exorbitant erfolgreichen Roman Die Vermessung der Welt (2005), der ein wenig vergessen ließ, dass er bereits zuvor mit Ich und Kaminski etwa feine Bücher vorgelegt hatte, tat er sich schwer, vergleichbare Anerkennung zu finden. Zwar galt er fortan als einer der gefragtesten deutschsprachigen Autoren, der zu gesellschaftspolitischen Fragen aller Art gern Stellung nahm, internationale Kontakte pflegte, den Deutschen Buchpreis (den er 2005 im Wettstreit mit Arno Geiger nicht gewonnen hatte) als unwürdiges Spektakel verdammte, vor Belesenheit strotzende Essays schrieb und die Bücher seiner Freunde gern als Meisterwerke pries, doch bei seinen Nachfolgeromanen wie Ruhm und F oder der Gespenstergeschichte Du hättest gehen sollen wollte keine ungeteilte Begeisterung aufkommen. Gewiss, auch das waren anspielungsreiche, gescheite Prosawerke, die in postmodernem Gestus um Identitätsverlust und Identitätsverwischung kreisten. Den Verdacht, dass es dem Autor Kehlmann schwerfalle, ein wirkliches Thema zu finden und zu behandeln, konnten sie jedoch nicht entkräften. Mit seinem neuen Roman, der – großzügig gesetzt – fast 500 Seiten umfasst, versucht Kehlmann den Gegenbeweis anzutreten, und wie man das Buch auch drehen und wenden mag, es lässt sich nicht abstreiten, dass ihm das glänzend geglückt ist. Tyll ist eines jener Werke, die ohne jede auftrumpfende Attitüde belegen, wozu Literatur fähig ist und was sie in ihren lichtesten Momenten einzigartig macht. Hinzukommt, dass Kehlmann viel riskiert, kein kleines Meisterstück vorlegen will, sondern aufs Ganze geht und einen ungemein kühnen Erzählrahmen konstruiert. Der Gaukler und Schalk Till Eulenspiegel – der bei Kehlmann als Tyll Uhlenspiegel firmiert – zählt zu den populärsten, von Literatur, Kunst und Film ungezählte Male adaptierten Figuren der europäischen Tradition, wiewohl seine genauen biografischen Umstände im Dunkeln liegen. Im 14. Jahrhundert soll er gelebt haben, ausgestattet mit den Attributen »Eule« und »Spiegel«, denen sich später die zeichnerisch vielfach festgehaltenen Eselsohren und Narrenkappen hinzugesellten. Wenn sich Kehlmann nun dieses Mannes annimmt, so kümmert er sich keinen Deut um historisch korrekte Datierungen. In einem wagemutigen Handstreich versetzt er seinen Tyll ins 17. Jahrhundert, macht ihn zu einem Müllerssohn, zum Vaganten, zu einem provozierenden Hofnarren, der sich durch den Dreißigjährigen Krieg schlägt und so zum Spiegel einer Epoche des Schreckens wird. In einem steten erzählerischen Vor und Zurück laviert sich Tyll zusammen mit seiner »Schwester« Nele durch das Geschehen, ohne sein frühes Trauma, die Hinrichtung seines philosophierenden, die Welt begreifen wollenden Vaters Claus, vergessen zu können. Tyll in Kehlmanns Lesart ist ein Überlebenskünstler, der mit Keckheit und Witz allen Widrigkeiten zu trotzen scheint. Um ein opulentes Zeitpanorama zu präsentieren, lässt Kehlmann dabei eine Vielzahl historisch verbürgter und fiktiver Personen aufmarschieren. Der nachdenkliche Henker Tilman, den man des Unglücks wegen nicht anfassen darf und der darum fleht, dass die Delinquenten ihm mit ihrem letzten Atemzug vergeben, der sprechende Esel Origines, der Erzhochstapler und Universalgelehrte Athanasius Kircher, der Barockdichter Paul Fleming – sie alle haben ihre unverwechselbaren Auftritte und machen die Frage, was an ihren Reden und Erlebnissen »wahr« oder »unwahr« sein könnte, ganz und gar überflüssig. Welche Leiden der Dreißigjährige Krieg für die Menschen mit sich brachte, davon erzählt Tyll in scharf gestochenen Bildern, die keine dekorative Opulenz benötigen, wie man sie aus so vielen aufgeblähten historischen Romanen kennt, deren Verfasser so tun, als würden sie die Tischgespräche von Herrschern oder Kriegsführern getreulich nachzeichnen. Daniel Kehlmann pfeift darauf, nimmt sich alle Freiheiten und schafft so einen Kosmos, der modern wirkt, wie sehr er auch von längst vergangenen Intrigen, Morden, Magien und Schlachten erzählt. Darin liegt eine verdeckte und versteckte Aktualität von Tyll: Man hat unweigerlich den Eindruck, dass dieser Roman nur entstehen und gelingen konnte, weil sein Autor Terror, Vernichtung und Religionskämpfe unserer aktuellen Zeit genau wahrgenommen hat und nun seine Anteilnahme denen zuteilwerden lässt, die die Opfer der Geschichte sind. Für postmoderne Spielchen, die nicht mehr als gefällig sind, scheint plötzlich kein Raum mehr zu sein, und wo immer man Shakespeare- oder Grimmelshausen-Anspielungen registriert, kommt nie das Gefühl auf, es gehe hier darum, Bildungsgut stolz auszustellen. Dass Kehlmann mit so traumwandlerischer Sicherheit alle Klippen seines Stoffes umschifft, hat natürlich mit der Sprache seines Textes zu tun. In keiner Zeile ist er der Versuchung erlegen, ein barockisierendes Wortgeklingel nachzuahmen. Von dem Moment an, da Kehlmanns Protagonist mit dem Ausruf »Ich bin der Tyll. Meine Schwester da drüben ist die Nele. Sie ist nicht meine Schwester« auf den Plan tritt, ist ein Ton größter, beschwingter Leichtigkeit angeschlagen. Die Dialoge schweben durch den Text, selbst wenn ernsthafteste Probleme von Krieg und Frieden verhandelt werden – zum Beispiel, wenn der unglückselige Pfalzgraf Friedrich V., der mit seinem Agieren 1618 maßgeblich dazu beitrug, den Krieg auszulösen, vom Schweden Gustav Adolf wie ein Bittsteller behandelt wird und nichts auszurichten vermag. Wie Kehlmann hier Rede und Widerrede über Seiten hinweg setzt, sie mit untergründigem Witz versieht, das ist eine von vielen meisterhaften Szenen in diesem Roman. Keine Frage, Daniel Kehlmann hat sich zurückgemeldet – und wie! UR - http://d-nb.info/1130887928/04 ER -