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520 1 _aQuelle: www.rezensionen.at - Manche Bücher bewegen das Leben des Lesers, indem ein seltsamer Energiesaft von den Buchseiten über die Unterarme in den Körper strömt. Peter Handkes "Die morawische Nacht" ist so eine Erzählung, der man zuerst poetisch, gefühlsmäßig, philosophisch aufgeweckt und voller Gelassenheit zuhört, ehe man überhaupt überlegt, was in diesem Buch eigentlich alles passiert. Es fängt schon mit dem Haptischen an, dunkelblaues Cover, ein aufregender Titel, lockere Textführung und handsamer Nachtumschlag. Und auch der Text umarmt den Leser sofort, hier ist einerseits alles erlaubt und andererseits wird alles voller Reife und Gelassenheit erzählt. Und dann erst der Inhalt: ein Fluss, ein Boot, ein Erzählstrom, der Lauf der Zeit! Am Schilfufer der Morawa, einem Zufluss der Donau im Osten Serbiens, hat ein Boot festgemacht, das "Morawische Nacht" heißt. Der Besitzer ist offensichtlich ein Dichter, der aus der Literatur, dem Literaturbetrieb und sich selbst ausgestiegen ist und so niemandem verpflichtet ist, außer dem Ablauf der Zeit. Eine Frau wird einmal kurz vorgestellt, ein paar Gäste gehen an Bord und ein Icherzähler schält sich aus diesem Erzähltumult manchmal heraus, um so etwas wie eine personenbezogene Ordnung herzustellen. In dreizehn Kapiteln lässt der Ex-Autor seinem Erinnerungsstrom freien Lauf. Aus dem Kosmos der literarischen Figuren des bisherigen Werks Handkes, aus biographischen Anspielungen und aus zeitgeschichtlichen Fakten entwickelt sich ein abfließender Zeitgeist, der die Stationen Reisen, Liebe, Poesie streift. Durch Serbien fährt ein alter österreichischer Postbus und bringt versprengte Personen der jugoslawischen Nachkriegszeit von einer Einöde in die andere. Ein Autor ist völlig Beziehungsunfähig, kann daher keine Frau lieben, weil er seiner Literatur treu sein muss. Geschichtsfragmente aus frühen Romanen werden im Literaturbetrieb wörtlich genommen und vom Autor spielerisch aufgelöst. Ein Buch muss nicht nur innerlich bearbeitet werden, es kann auch nicht schaden, wenn man es ins Freie legt und anwittern lässt, ehe die Lektüre beginnt. (333) Während der Dichter konzentriert höchste Poesie verfasst, kommen die Kühe von der Weide und furzen in Augenhöhe fröhlich über den Text. (135) Figuren aus verschiedenen Romanen der Weltliteratur machen sich selbständig und entwickeln eine eigene Literaturgeschichte. "Ein Irrtum, das ging ihm jetzt auf, war dann seine Suche nach den weiten Horizonten gewesen." (58) Beinahe jeden Satz könnte man herausschreiben und als Gedicht auf der Zunge zergehen lassen, ob es eine Stubenfliege ist, die ihrem Ende entgegen torkelt oder das schräge Leuchten aus den Wolken, das am Ende der Sinn des ganzen Lebens ist. Am Schluss hebt sich die Erzählung selbst aus den Angeln. Vielleicht ist alles nur das Buch einer Nacht, das bei Tagesanbruch verlischt, sobald man davon berichten will. So aufregend also kann ein Spätwerk sein! Gelassenheit, abgehangenes Erzählfleisch, abgetropfte Wunden. Am Ende der Tage wird sich vielleicht alles selbst ausklinken und einrenken, je nachdem, wie verworren das Leben gelaufen ist. Die morawische Nacht ist vielleicht eine paradiesische Apokalypse, eine goldene Gegenwart der Erinnerung, worin alle Gegensätze friedlich und unaufgeregt anlegen, abstoßen, festmachen und sich im Schilf der Zeit verfangen. Helmuth Schönauer
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