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520 1 _aQuelle: www.rezensionen.at - Daniela Strigl Durchlebte Geschichte Michael Köhlmeiers Opus magnum "Abendland" Das lang erwartete Opus magnum des Michael Köhlmeier hat beim Auslaufen aus dem Verlagshafen im Sommer hohe Wellen geschlagen. Daß Klaus Nüchtern im "Falter" "Abendland" als "den aufregendsten österreichischen Roman des 21. Jahrhunderts" rühmte, wurde vielfach bespöttelt, auch wurde er von der Kollegenschaft, die gerade angesichts dieses Romans mit ihren mathematischen Kenntnissen nicht hinterm Berg halten wollte, darüber belehrt, daß in diesem Jahrhundert noch gut 92 Jahre zu absolvieren seien. Von solchem Geplänkel abgesehen: Ein Autor, der sechs Jahre seines Lebens investiert, um einen Roman zu schreiben, der die Geschichte eines Jahrhunderts erzählt, der hat wohl ein Anrecht darauf, daß seine Kritiker sich mit der Frage auseinandersetzen, ob dies nun ein Jahrhundertroman geworden sei. Simone de Beauvoir erzählt in ihrem Roman "Alle Menschen sind sterblich" (1948) die Geschichte eines Mannes, der eben nicht sterben kann. Geboren im Italien des 13. Jahrhunderts, gibt er seiner Autorin die Gelegenheit, ihn durch die Epochen der europäischen Geschichte bis in die Gegenwart zu begleiten, ihn zur Konstante in einem gigantischen Panorama des Abendlandes zu machen. Köhlmeier, der zuletzt vor allem als Erzählminimalist hervorgetreten ist, war da nicht viel bescheidener. Er begnügt sich zwar mit dem 20. Jahrhundert, aber er sprengt die Grenzen Europas. Von Moskau bis Japan, von den USA bis Brasilien, von Lissabon bis Deutsch-Südwestafrika reicht der Arm des Erzählers, der doch eigentlich von einer österreichischen Familie ausgeht. Die Hauptlast an durchlebter Geschichte hat Carl Jacob Candoris (1906-2001) zu tragen: Die fiktive Figur, ein begabter Mathematiker, intelligent, souverän, großzügig, wenn auch emotional unterkühlt, wird von ihrem Autor an die Brennpunkte des historischen Geschehens geschickt - oder, wie Köhlmeier wohl klarstellen würde, sie lockt ihn ebendort hin. Candoris bewegt sich im Göttingen der zwanziger und im Moskau wie im Amerika der dreißiger Jahre, er wirkt im Nazi-Berlin als Spion in englischen Diensten, er verfolgt als Insider den Nürnberger Prozeß. Aber auch sein Patenkind Sebastian Lukasser, der Schriftsteller, der von ihm gleichsam zum Biographieschreiben abkommandiert wird, kommt ganz schön herum: Geboren und aufgewachsen in Wien, Schulzeit in Innsbruck, Lissabon, Vorarlberg, Studium in Frankfurt zur Zeit der Studentenbewegung, Lehrjahre in New York und North Dakota. So gerät er, der kontemplative Stubenhocker, der eigentlich ganz in Bewunderung für Carl Candoris' vita activa aufgeht, selbst immer wieder in aufregende Situationen: Als Chucky, ein ziemlich durchgeknallter Typ aus Sebastians Vorarlberger Jugendzeit (er kommt uns aus einer früheren Geschichte bekannt vor), sich einbildet, er könnte über Sebastian in die RAF einsteigen. Oder als der Erzähler sich in die schöne schwarze Maybelle verliebt und im Anfang der Achtziger immer noch ziemlich ungemütlichen Brooklyn zur Zielscheibe schwarzer Jugendlicher wird. Jetzt sind wir schon mittendrin im Geschehen, und das ist wohl kennzeichnend für diesen Roman: Wo immer man hingreift, bekommt man den Zipfel einer Geschichte zu fassen und mit ihr gleich einen ganzen Erzählstrang, der den nächsten nach sich zieht. Gerahmt wird das Ganze von Sebastians Besuch bei dem sehr alten Herrn in dessen Villa hoch über Innsbruck: Carl hat nur noch wenige Wochen zu leben, und er will sich verewigt wissen. Abendland ist auch der Schauplatz eines Lebensabends. Sebastian, Anfang fünfzig, Vater eines verlorenen Sohnes, hat gerade eine Operation hinter sich - Prostatakrebs -, die nicht nur seine Manneskraft in Frage stellt. Dennoch tritt er freudig in Carls Dienste, schließlich war der über Jahrzehnte der gute Geist der Familie. Ja, die Familie: grob gefaßt, könnte man sagen, Sebastian hat die Kindheit eines Trinkerkindes absolviert. Doch sein Vater Georg war nicht einfach ein Trinker, er war Musiker, ein genialer Jazzgitarrist. Als solcher wurde er vom weitgereisten Carl 1946 in einem Wiener Jazzclub entdeckt, eine Szene, die ein wenig an Woody Allens Film "Sweet and Lowdown" erinnert, in dem ein ebenfalls erfundener Musiker sich als der "zweitbeste Jazzgitarrist der Welt" - nach Django Reinhardt - definiert. Bei Köhlmeier sagt Carl Candoris zu Georg Lukasser, er kenne nur einen, der so spielen könne, nämlich Django Reinhardt; als er das dem jungen Mann mit Hilfe einer Platte demonstriert, stürzt er ihn in die erste seiner vielen Krisen. Michael Köhlmeier hat unlängst in einem Interview gesagt, er kenne den Literaturbetrieb nicht. Der Literaturbetrieb aber, so viel ist gewiß, kennt ihn und hat ihm längst ein Etikett verpaßt, das des genuinen Erzählers, des Märchenonkels mit Niveau. Das führt einerseits dazu, daß man dazu neigt, das formale Raffinement des Autors zu unterschätzen. Andererseits ist es tatsächlich unsinnig, ihm die Bedingung seines Schreibens - den Glauben an die trotz allen Dementis der Avantgarde ungebrochene Kraft das Narrativen - zum Vorwurf zu machen. Köhlmeier erzählt seinen großen Roman mit diskreter Regieführung, mit mannigfaltigen Verschränkungen, gleichsam sich selbst (oder Carl) immer wieder ins Wort fallend. Mit seiner opulenten Ausstattung von "Wirklichkeit" gelingt es ihm, fiktive Gestalten gleichberechtigt neben historische - wie die jüdische Philosophin und Klosterfrau Edith Stein oder die Mathematikerin Emmy Noether - zu stellen; oder umgekehrt: die realen Figuren zu fiktionalem Leben zu erwecken: Sie gehören zur (erfundenen) Familie, als wäre das ganz normal. Die Autorität des Erzählers macht uns zum Schluß gar die Karriere eines deutschen Massenmörders namens Hanns Alverdes plausibel, der als dunkle Kontrastfigur zur mit ihm verwandten Lichtgestalt Carl den Großteil des durchmessenen Jahrhunderts in einer Gefängniszelle absitzt. Bei all dem entwickelt der Autor einen gewaltigen Drive, wenn auch nicht unbedingt dort, wo er sein musikalisches Fachwissen ausbreitet. Verborgen hinter seinem Helden Sebastian, verrät Köhlmeier auch ein paar Betriebsgeheimnisse. Zum Beispiel daß exzessives Recherchieren nicht wirklich gegen eine Schreibhemmung hilft. Oder daß Hochgefühle dem kreativen Fortschritt meist abträglich sind: "Es ist nicht gut, sondern schlecht, sich in der Stimmung an den Schreibtisch zu setzen, die schreibend erst erzeugt werden soll." Einmal macht Carl Andeutungen einer (ausnahmsweisen) homoerotischen Beziehung, will sich aber darüber nicht weiter auslassen und rät seinem Biographen: "Bau eine kleine Novelle daraus! Das soll ja deine Stärke sein." Ja, das ist bekanntlich auch Michael Köhlmeiers Stärke. Eingebettet in den großen Fluß des Erzählens sind nicht wenige wunderbare, berührende und mitreißend spannende Geschichten: die vom vermeintlichen Mord am stalinistischen Agenten Pontrjagin zum Beispiel oder von der Hündin Suka, die Sebastian in North Dakota von seinem wahnsinnig netten, aber leider auch wahnsinnigen Nachbarn Zukrowski geschenkt bekommt und mit der er sich, als schreibender Einsiedler in einer feindlichen Schneewelt, widerwillig anfreundet, eine zeitgemäße Krambambuli-Variation, vielleicht das Glanzstück des Romans. 1935 hört Carl Billie Holiday in New York - ein Erweckungserlebnis: "Der Jazz war das Blut, das Odysseus vor der Pforte zum Hades ausgießt, damit sich die grauen Seelen etwas frische Farbe ansaufen. So eine graue Seele war ich. Ich hatte das dringende Gefühl, falsch gelebt zu haben." Von diesem frischen Rot gibt es in Köhlmeiers Roman reichlich, zwischendurch läßt die Wirkung der Erzählmagie aber auch nach, die Farbe verblaßt, und das Papier scheint durch: beim Resümieren peripherer Lebensläufe, bei der Vermittlung von Lehrstoff, beim kommunikativen Kräftemessen zwischen dem Biographen und dessen Gegenstand. Immer neue Figuren, Details, Episödchen, für die das dem Autor zu Gebote stehende Herzblut schlicht nicht ausreicht, werden der Geschichte aufgepackt. Das angehäufte Füllmaterial führt da und dort zur Überladung. Die Unersättlichkeit des Erzählens suggeriert, es ließe sich das Ziel des Jahrhundertromans durch schiere Quantität des Verwirklichten erreichen. Natürlich gibt es auf 775 Seiten auch kleine Webfehler, sachliche und sprachliche. Einer, der wie der Erzähler selbst morphiumsüchtig war, der muß sich nicht lang und breit die Wirkung von Morphium (das Carl als Schmerzmittel braucht) erklären lassen. Sätze wie "Es zog mir den Boden unter den Füßen weg und die Tränen aus den Augen" hätten den Lektor alarmieren müssen. Und es hätte einer Entscheidung bedurft, ob Sebastian nun ein österreichisches oder ein bundesdeutsches Idiom pflegt, die ständige Mischung (etwa von "habe gestanden" und "bin gestanden") stört. Aber wer wollte bei einem Jahrhundertroman so kleinlich sein: Das Lesevergnügen überwiegt allemal.
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