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520 1 _aQuelle: www.rezensionen.at - Jedes Land hat vermutlich einen sogenannten National-Roman, der in Gestalt einer einleuchtenden Story Auskunft gibt über Probleme und Bemühungen einer aktuellen Gesellschaft. Im Falle der Türkei erfüllt sicher Orhan Pamuk, der Nobelpreisträger von 2006, mit seinem Roman "Schnee" diese Aufgaben. Noch zehn Jahre nach seiner Erstauflage dient "Schnee" im Inland als Kodex politischer Auseinandersetzung und im Ausland als Foyer, die reichhaltigen Mythen und den alltäglichen Kampf um ein politisch erträgliches System in Augenschein zu nehmen. Dabei ist Schnee ein spannender Roman zwischen Romantik und politischem Hardcore-Realismus. Beeindruckend sind die drei "K", die dem Text Substanz geben. Da ist einmal die Hauptfigur "Ka", ein emigrierter Journalist, der üblicherweise in Frankfurt lebt, aber anlässlich des Todes seiner Mutter nach Istanbul zurückgekehrt ist. Von diesem intellektuellen Zentrum aus macht er sich auf nach "Kars", einer Stadt, die in jeglicher Hinsicht an der Peripherie liegt. Und schließlich spielt noch "Kar" die Hauptrolle, das türkische Wort für Schnee. Zwischen dem westlichen Exil-Standpunkt Frankfurts, dem staatstragend aufgeklärten Istanbul und dem archaisch zurückhängenden Kars werden nun die einzelnen Thesen zerrieben, und mit ihnen auch die handelnden Personen. Denn der Plot ist unbarmherzig geradlinig. Kaum ist der Journalist, der eigentlich eine mysteriöse Selbstmordserie junger Mädchen in der Provinzstadt aufklären soll, in der abgelegenen Stadt eingetroffen, wird diese durch Schneefall von der Außenwelt abgeschnitten. Gleichzeitig implodiert das Theater, aus einer Aufführung heraus entsteht eine handfeste Revolte. Ähnlich wie in Schnitzlers Revolutionsstück vom "grünen Kakadu" rufen die Schauspieler von der Bühne herunter den Putsch aus, und dabei wird scharf geschossen. Das ist ja dieses erzählerisch brillant gelöste Problem, dass es einerseits um eine sanfte, vom Schnee eingelullte Lebensidee geht, andererseits dabei ständig gefoltert und scharf geschossen wird. Die Figuren agieren im ersten Anschein märchenhaft orientalisch, wenn sie barocke Sätze von sich geben und mit gewaltigen Wortschlieren ihre Sehnsüchte ausdrücken, andererseits funktionieren sie militärisch brutal, und fast jede Auseinandersetzung wird mit einem tödlichen Schuss beendet. Ka wundert sich anfangs noch, warum er mit allen Verrückten dieser Stadt reden muss, (111) bald aber wird er tragisch in die Revolte hineingezogen. Persönliche Freunde werden plötzlich zu staatlichen Feinden, politische Fraktionen zeigen überraschend deutlich ihre Fratze der Macht. In dieser entlegenen Gegend, eingelullt vom Schnee, brechen alle nur erdenklichen Klüfte auf, die Gesellschaft ist zerrissen, manchmal geht der Riss auch durch das Herz des eigenen Körpers. "Schnee" ist eine wuchtig romantische und politisch spitze Auseinandersetzung mit dem Sound der modernen Türkei, für Einwärtige und Auswärtige gleichermaßen aufklärend. Helmuth Schönauer
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