Amazon cover image
Image from Amazon.com

brütt oder Die seufzenden Gärten Friederike Mayröcker

By: Material type: TextTextLanguage: German Publisher: Frankfurt am Main Suhrkamp 1998Edition: 1. AuflDescription: 350 S. 21 cmContent type:
  • Text
Media type:
  • ohne Hilfsmittel zu benutzen
Carrier type:
  • Band
ISBN:
  • 9783518409947
  • 3518409948
Subject(s): Other classification:
  • 59 | 810 | 820 | 830 | 839 | 840 | 850 | 860 | 870 | 880 | 890 | B
Review: Quelle: www.rezensionen.at - Franz Haas Das Herzzerreißende des Alterns / Friederike Mayröckers neue, altersstarke Prosadichtung Vor Jahren mutmaßte die Ich-Erzählerin in einem schmalen Buch von Friederike Mayröcker, »daß die Assoziationskraft mit zunehmendem Alter eher zu- als abnimmt« In ihrem neuen, dicken Prosaband hat die Autorin unermüdlich diese Vermutung und noch mehr bestätigt: daß mit ihren (bald 75) Jahren von dichterischer Altersschwäche nichts zu merken ist, im Gegenteil, daß der Blick auf sich selbst herzzerreißend radikal geworden ist. Mit der Gefahr der Senilität ist aber nicht nur die rettende poetische Kraft gewachsen, auch ein beneidenswert munterer Pessimismus. Das erzählende Ich ist manchmal zerknirscht angesichts seiner Sprachgrenzen, oft skeptisch gegen den eigenen Kopf, vor allem aber unnachsichtig mit dem alternden Körper. Der zweiteilige Titel des Buches deutet das zwiespältige Doppelprogramm an: »brütt oder Die seufzenden Gärten«. Da ist zunächst das Rohe und Häßliche, brutal, aber richtig eingedeutscht aus dem Französischen - und dann eine Ahnung von Illusion, von Rettung in schöne Worte. Doch später im Text, sehr spät, steht dieses poetische Seufzen im Bund mit einer »Verwahrlosung« mit Tränen und Schweiß eines faltigen Körpers, »in den Pupillen die seufzenden Gärten der Erschöpfung«. Solch begnadete Wortgebilde werden von der Erzählerin in uferlosen Sätzen aufgeboten. Argwöhnisch, doch unverdrossen spricht sie von der eigenen »Altersmisere« vom täglichen Dichterleben, von der Schreibmaschine und der Suppenschüssel - und redet dabei ums Leben. Ihr vitaler Kopf dichtet um die Wette gegen die physische Hinfälligkeit. Die Falten in ihrem Gesicht sind einmal ein lyrischer »Laufsteg der Tränen« gleich daneben aber auch ganz prosaisch »das Rinnsal meiner Lefzen« Das ist extreme Dichtung gegen die »Ausweglosigkeit des eigenen Todes« ein kunstvolles Hakenschlagen statt der üblichen Altersmilde. Die Liebe ist immer noch das beste Kunstmittel gegen den Tod. Also erzählt die Frau ihre »letzte Liebesgeschichte« Der Geliebte heißt Joseph und ist ein keuscher »Pappkamerad« mehr Traumobjekt als Traumdeuter, eine flüchtige »Zettelfigur« immer auf Reisen oder sonstwie abwesend. Sie erzählt die Geschichte in tausend Fragmenten, erzählt sie in Selbstmonologen, in Briefen an Freunde, in Dialogen mit Joseph, meist aber in Gesprächen und Telefonaten mit Blum, dem Lebensfreund, der stützenden Figur (die in anderen Mayröcker-Büchern der »Vorsager« oder »Ohrenbeichtvater« hieß). Sie spricht von ihrer ganzen Existenz, von Lektüren, bildern und Musik, vom Tod der Mutter und von dieser »letzten Liebe«, von der sie nicht ablassen will, wie sie nicht lassen kann vom Schreiben an diesem Buch. Die Liebe und die Angst vor dem Ende machen die alte »KNÄBIN« erfinderisch, treiben die Wortsucherin in ein assoziatives Delirium, das erst nach 350 Seiten mit einem tröstlichen Zitat endet, »weil nämlich, wie Paul Valéry sagt, der wahre Schriftsteller 1 Mensch ist, der seine Worte nicht findet«. Oft ruft die Erzählerin solche Hilfe von den Heiligen der Weltliteratur an. Sie möchte schreiben können, wie »Beckett und Jean Paul, wie Hölderlin und Brecht zusammen, nicht wie einer von ihnen allein. Beim Lesen von Koeppen bricht sie in Tränen aus, mit dem Gefühl, »daß ich alles falsch gemacht habe«. Verheerend ist auch der Vergleich mit der Sprache von Musil, »da trolle ich mich als beschämter Verlierer«. Das poetologische Selbstgespräch gibt häufig auch die Stichworte für die Themen aus dem Küchenalltag, denn pessimistische Diskurse sind nicht auf die Kunst beschränkt. »Verknöchert erschien mir meine eigene Sprache«; und wenig später fühlt sich die Ich-Erzählerin »schon bald so verknöchert wie die meisten anderen Frauen«. Kompliziert sind die Phantasie und der Name von diesem Ich (einmal wird er buchstabiert: Mayröcker), elementar der Wunsch nach Unendlichkeit, im Leben, in der Liebe und in der Formulierungskunst. So lange die »letzte Liebesgeschichte« mit Joseph weitergeht, in immer neuen Volten und Erfindungen, so lange das Buch nicht zu Ende ist, geht auch das Leben weiter, zwar mit einem »faltenverschnürten Leib«, doch mit den Funken der lebendigsten Dichterin im Kopf. Bei allen dichterischen Selbstzweifeln, die Friederike Mayröcker in diesem Buch anführt, ist sie sich ihres Wertes bewußt. Sie kennt die Scham über schiefgegangene Seiten, die »Scham am Morgen über den losgelassenen Brief des Vortags« aber erkennt auch die »BILLIGSCHREIBER«, zu denen sie nie gehören wird. Billige Schönheit wird es auch in ihren zukünftigen Büchern sowenig geben wie in den Arbeitsbildern von Francis Bacon. An diesen Bildern liebt sie 'die Häßlichkeit und den Gestank', die trotzige Haltung angesichts der Erbärmlichkeit des Körpers. Das ist keine gekünstelte Ästhetik des Unansehnlichen, so wei in diesem häßlichen Buch 'keine Aufgeblasenheit der Sprache' ist. Es ist ein 'sich nicht trennen können von dieser ANGEWOHNHEIT'. So schreibt sie immer fort an ihrem wunderbaren Bericht über das Leben, diese liebe Angewohnheit. Auch wenn dieses Schreiben am Leben erhält, seien Buchhändler davor gewarnt, Mayröcker in die Regale der Lebenshilfe-Ratgeber zu stellen. Und wenn siech die Autorin dagegen verwahrt, 'meine Schrift als ‘lyrische Prosa’ zu disqualifizieren', dann ist das ihr Recht auf Freiheit von jeder Einschnürung. Im übrigen braucht diese große Dichtung keine Katalogisierung, außer in Germanistenbüchern und Inventurlisten. Ihr erstes Ziel ist nicht, es dem Leser leicht zu machen. Sie schreibt so ungeordnet und 'so kindskopfmäßig wie sonst kaum jemand in meinem Alter', sorgt sich wohl um Verständlichkeit, kann aber nur einen Rat geben: 'einfach nur lesen, was da steht, mehr ist nicht drin, mehr ist nicht da, aber das ist ja wirklich genug, das genügt, um den abgebrühtesten Kerl zum Heulen zu bringen, nicht wahr.' - Ja, einfach nur Mayröcker lesen (und aufhören auch mit dieser Rezension), lesen von den Spuren der Regengüsse auf dem Rücken des Ledermantels der Mutter beim Eislaufplatz, oder von einem 'verdutzen Löffel im Honigglas', einfach nur lesen, und heulen wer kann.
Star ratings
    Average rating: 0.0 (0 votes)
Holdings
Item type Current library Collection Call number Status Barcode
Bücher Bücher Schulbibliothek BSZ Mistelbach ZSB Belletristik DR MAY (Browse shelf(Opens below)) Available 113977

Quelle: www.rezensionen.at - Franz Haas

Das Herzzerreißende des Alterns / Friederike Mayröckers neue, altersstarke Prosadichtung

Vor Jahren mutmaßte die Ich-Erzählerin in einem schmalen Buch von Friederike Mayröcker, »daß die Assoziationskraft mit zunehmendem Alter eher zu- als abnimmt« In ihrem neuen, dicken Prosaband hat die Autorin unermüdlich diese Vermutung und noch mehr bestätigt: daß mit ihren (bald 75) Jahren von dichterischer Altersschwäche nichts zu merken ist, im Gegenteil, daß der Blick auf sich selbst herzzerreißend radikal geworden ist. Mit der Gefahr der Senilität ist aber nicht nur die rettende poetische Kraft gewachsen, auch ein beneidenswert munterer Pessimismus. Das erzählende Ich ist manchmal zerknirscht angesichts seiner Sprachgrenzen, oft skeptisch gegen den eigenen Kopf, vor allem aber unnachsichtig mit dem alternden Körper.
Der zweiteilige Titel des Buches deutet das zwiespältige Doppelprogramm an: »brütt oder Die seufzenden Gärten«. Da ist zunächst das Rohe und Häßliche, brutal, aber richtig eingedeutscht aus dem Französischen - und dann eine Ahnung von Illusion, von Rettung in schöne Worte. Doch später im Text, sehr spät, steht dieses poetische Seufzen im Bund mit einer »Verwahrlosung« mit Tränen und Schweiß eines faltigen Körpers, »in den Pupillen die seufzenden Gärten der Erschöpfung«. Solch begnadete Wortgebilde werden von der Erzählerin in uferlosen Sätzen aufgeboten. Argwöhnisch, doch unverdrossen spricht sie von der eigenen »Altersmisere« vom täglichen Dichterleben, von der Schreibmaschine und der Suppenschüssel - und redet dabei ums Leben. Ihr vitaler Kopf dichtet um die Wette gegen die physische Hinfälligkeit. Die Falten in ihrem Gesicht sind einmal ein lyrischer »Laufsteg der Tränen« gleich daneben aber auch ganz prosaisch »das Rinnsal meiner Lefzen« Das ist extreme Dichtung gegen die »Ausweglosigkeit des eigenen Todes« ein kunstvolles Hakenschlagen statt der üblichen Altersmilde.
Die Liebe ist immer noch das beste Kunstmittel gegen den Tod. Also erzählt die Frau ihre »letzte Liebesgeschichte« Der Geliebte heißt Joseph und ist ein keuscher »Pappkamerad« mehr Traumobjekt als Traumdeuter, eine flüchtige »Zettelfigur« immer auf Reisen oder sonstwie abwesend. Sie erzählt die Geschichte in tausend Fragmenten, erzählt sie in Selbstmonologen, in Briefen an Freunde, in Dialogen mit Joseph, meist aber in Gesprächen und Telefonaten mit Blum, dem Lebensfreund, der stützenden Figur (die in anderen Mayröcker-Büchern der »Vorsager« oder »Ohrenbeichtvater« hieß). Sie spricht von ihrer ganzen Existenz, von Lektüren, bildern und Musik, vom Tod der Mutter und von dieser »letzten Liebe«, von der sie nicht ablassen will, wie sie nicht lassen kann vom Schreiben an diesem Buch.
Die Liebe und die Angst vor dem Ende machen die alte »KNÄBIN« erfinderisch, treiben die Wortsucherin in ein assoziatives Delirium, das erst nach 350 Seiten mit einem tröstlichen Zitat endet, »weil nämlich, wie Paul Valéry sagt, der wahre Schriftsteller 1 Mensch ist, der seine Worte nicht findet«. Oft ruft die Erzählerin solche Hilfe von den Heiligen der Weltliteratur an. Sie möchte schreiben können, wie »Beckett und Jean Paul, wie Hölderlin und Brecht zusammen, nicht wie einer von ihnen allein. Beim Lesen von Koeppen bricht sie in Tränen aus, mit dem Gefühl, »daß ich alles falsch gemacht habe«. Verheerend ist auch der Vergleich mit der Sprache von Musil, »da trolle ich mich als beschämter Verlierer«.
Das poetologische Selbstgespräch gibt häufig auch die Stichworte für die Themen aus dem Küchenalltag, denn pessimistische Diskurse sind nicht auf die Kunst beschränkt. »Verknöchert erschien mir meine eigene Sprache«; und wenig später fühlt sich die Ich-Erzählerin »schon bald so verknöchert wie die meisten anderen Frauen«. Kompliziert sind die Phantasie und der Name von diesem Ich (einmal wird er buchstabiert: Mayröcker), elementar der Wunsch nach Unendlichkeit, im Leben, in der Liebe und in der Formulierungskunst. So lange die »letzte Liebesgeschichte« mit Joseph weitergeht, in immer neuen Volten und Erfindungen, so lange das Buch nicht zu Ende ist, geht auch das Leben weiter, zwar mit einem »faltenverschnürten Leib«, doch mit den Funken der lebendigsten Dichterin im Kopf.
Bei allen dichterischen Selbstzweifeln, die Friederike Mayröcker in diesem Buch anführt, ist sie sich ihres Wertes bewußt. Sie kennt die Scham über schiefgegangene Seiten, die »Scham am Morgen über den losgelassenen Brief des Vortags« aber erkennt auch die »BILLIGSCHREIBER«, zu denen sie nie gehören wird. Billige Schönheit wird es auch in ihren zukünftigen Büchern sowenig geben wie in den Arbeitsbildern von Francis Bacon. An diesen Bildern liebt sie 'die Häßlichkeit und den Gestank', die trotzige Haltung angesichts der Erbärmlichkeit des Körpers. Das ist keine gekünstelte Ästhetik des Unansehnlichen, so wei in diesem häßlichen Buch 'keine Aufgeblasenheit der Sprache' ist. Es ist ein 'sich nicht trennen können von dieser ANGEWOHNHEIT'. So schreibt sie immer fort an ihrem wunderbaren Bericht über das Leben, diese liebe Angewohnheit.
Auch wenn dieses Schreiben am Leben erhält, seien Buchhändler davor gewarnt, Mayröcker in die Regale der Lebenshilfe-Ratgeber zu stellen. Und wenn siech die Autorin dagegen verwahrt, 'meine Schrift als ‘lyrische Prosa’ zu disqualifizieren', dann ist das ihr Recht auf Freiheit von jeder Einschnürung. Im übrigen braucht diese große Dichtung keine Katalogisierung, außer in Germanistenbüchern und Inventurlisten. Ihr erstes Ziel ist nicht, es dem Leser leicht zu machen. Sie schreibt so ungeordnet und 'so kindskopfmäßig wie sonst kaum jemand in meinem Alter', sorgt sich wohl um Verständlichkeit, kann aber nur einen Rat geben: 'einfach nur lesen, was da steht, mehr ist nicht drin, mehr ist nicht da, aber das ist ja wirklich genug, das genügt, um den abgebrühtesten Kerl zum Heulen zu bringen, nicht wahr.' - Ja, einfach nur Mayröcker lesen (und aufhören auch mit dieser Rezension), lesen von den Spuren der Regengüsse auf dem Rücken des Ledermantels der Mutter beim Eislaufplatz, oder von einem 'verdutzen Löffel im Honigglas', einfach nur lesen, und heulen wer kann.

There are no comments on this title.

to post a comment.